Kurz & bündig
- Paolo und Fabio Gabaglio bewirtschaften den südlichsten Betrieb der Schweiz.
- Die ganze Familie packt im Betrieb mit an.
- Die Nähe zu Italien spielt im Alltag keine grosse Rolle.
- Milchvieh, Lohnarbeiten und der Weinbau sind die wichtigsten Standbeine.
Wenn als Erstes gefragt wird, ob man einen Schuss Grappa in den Espresso haben möchte, hat man den Kulturraum der Deutschschweiz eindeutig hinter sich gelassen. Eingebettet in die bewaldeten Hügel der Gemeinde Novazzano liegt die «Azienda Gabaglio», der südlichste Vollerwerb-Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz.
Das Tessin verbindet man im Juni 2020 vor allem mit der Corona-Pandemie. Die Gabaglios haben vorgesorgt: Wir nehmen Platz auf einer Bank unter dem gedeckten Futtertisch. Die Kühe sind vom Besuch unbeeindruckt, und Paolo Gabaglio beginnt zu erzählen.
«Wir sind seit 1997 Pächter dieses Betriebes. Uns war gar nie richtig bewusst, dass wir die südlichsten Bauern der Schweiz sind», lacht der Senior-Chef.
Er führt den Betrieb gemeinsam mit seinem Sohn Fabio in einer Generationengemeinschaft. Aber auch die Frauen helfen tatkräftig mit.
Paolos Frau Claudia ist wie auch Fabios Frau gelernte Landwirtin. Claudia hat zudem die Ausbildung zur Besamerin gemacht und ist in dieser Funktion in einem 15 Prozent Pensum im Tessin unterwegs.
Fabios Frau Romina hilft ebenfalls, wo sie kann. Derzeit ist sie aber vom eigenen Nachwuchs stark gefordert: Mit Amelie (2) und Cedric (11 Monate) wächst bereits die dritte Generation auf der «Azienda Gabaglio» heran.
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Paolo hat seine spätere Frau in der Berufsschule kennengelernt
Paolo hat zuerst Landmaschinenmechaniker gelernt. In einem zweiten Schritt bildete er sich zum Landwirt aus. Damals ebenfalls in seiner Klasse in Mezzana: seine spätere Frau Claudia. «Ich war erst die dritte Frau im ganzen Kanton Tessin, die Landwirtin gelernt hat», erinnert sich Claudia. Dass eine Frau diesen Weg einschlägt, haben damals nicht alle gerne gesehen. «Zum Glück haben mich aber meine Eltern, die selber Landwirte im abgelegenen Blenio-Tal waren, unterstützt», erinnert sich Claudia Gabaglio.
«Ich war natürlich nicht der Einzige, der an Claudia interessiert war», lacht Paolo. Und fügt an: «Ich hatte sehr grosses Glück, eine Frau wie Claudia zu finden. Ohne sie wäre das alles hier nicht möglich.»
Drei Milchviehrassen und 7500 kg Milch Stalldurchschnitt
Der Betrieb ist in der Tat arbeitsintensiv: 40 Milchkühe der Rassen Holstein, Red Holstein und Brown Swiss stehen im Stall. Sie geben durchschnittlich 7500 Liter Milch, die älteste Kuh Zilli ist 12 Jahre alt. Gemolken wird in einem 6er Side-by-Side Melkstand, die Arbeit dauert jeweils rund 1,5 Stunden.
An Viehschauen nehmen die Gabaglios nicht teil. «Wir haben diese Tradition im Tessin leider nicht sehr ausgeprägt», sagt Claudia. Die Familie mästet jährlich fünf Ochsen und zwei Kälber aus. Die restlichen Tiere, die nicht für die Nachzucht gebraucht werden, werden mit 75 kg verkauft.
Die Besamung erledigt selbstverständlich immer die dafür ausgebildete Claudia Gabaglio. «Wir setzen gesexten Samen ein. Wenn wir die Tiere nicht für die Nachzucht brauchen, verwenden wir Sperma von Limousin- oder Angus-Stieren», gibt die Besamerin Auskunft.
Die Rinder gehen im Sommer auf eine Alp im Blenio-Tal, die Kühe hingegen bleiben immer unten auf der «Azienda Gabaglio».
Nebst der Milchproduktion – der Milchpreis liegt bei netto rund 50 Rappen – haben Gabaglios noch andere Standbeine. «Wir führen Lohnarbeiten für andere Bauern aus», erzählt Fabio Gabaglio. Zum Fuhrpark gehören ein Mähdrescher, ein Maishäcksler und eine Rundballenpresse. Probehalber steht zudem ein John Deere mit RTK-Lenksystem auf dem Betrieb. «Zum Säen und für die Kulturpflege überlegen wir uns die Anschaffung eines GPS», sagt Fabio.
Der Betrieb umfasst rund 55 Hektaren landwirtschaftliche Nutzfläche. Ein grosser Teil der Fläche wird für die Futterproduktion beansprucht: Mais und Kunstwiesen, aber auch Futterrüben und Sorghum werden für die Kühe kultiviert. Sorghum war die Idee von Sohn Fabio. «Sorghum hat den Vorteil, dass er auch bei grosser Trockenheit stabilen Ertrag bringt.»
Der Ertrag liege zwar etwas tiefer als beim Mais, dafür seien die jährlichen Schwankungen weniger gross. Sorghum wird auf rund 2 Hektaren angebaut. Die restliche Fläche wird für den Anbau von Körnermais, Brotweizen und für Reben genutzt.
Beim Brotweizen kommt die Sorte Fiorina zum Zug. «Der grösste Abnehmer im Tessin wünscht diese Sorte, deshalb ist sie hier sehr verbreitet», sagt Paolo Gabaglio. Das besondere an diesem begrannten Weizen: Es ist ein sogenannter Wechselweizen, der sowohl im Herbst als auch im Frühjahr gesät werden kann.
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Fünf Hektaren Merlot-Reben geben viel Arbeit
Die Reben sind ein wichtiger Betriebszweig der Gabaglios. Auf 5 Hektaren bauen sie rote Merlot-Trauben an. Das erfordert viel Handarbeit. Die ganze Familie hilft jeweils mit, auch das zweite Kind von Claudia und Paolo, Sohn Mauro. «Er ist gelernter Landmaschinenmechaniker und hilft immer wieder aus auf unserem Betrieb.»
Nebst den Arbeitskräften aus der Familie braucht es aber noch weitere helfende Hände. Jährlich werden auf dem Betrieb ein bis zwei Lehrlinge ausgebildet. Insbesondere Vater Paolo hat Freude an den Lehrlingen: «Einmal hatten wir sogar mit Chiara eine Italienerin, die extra zu uns in die Schweiz gekommen ist, um hier die Lehre als Landwirtin zu machen», erzählt er. Die junge Frau wollte vom dualen System – Theorie und Praxis in der Ausbildung – profitieren und hat mit Bravour bestanden.
Über Lehrtochter Chiara hat Paolo auch einige Landwirte in Italien kennengelernt. «Es ist für mich immer interessant, andere Bauern kennen-zulernen. Es gibt viele Unterschiede, aber auch zahlreiche Gemeinsamkeiten. Da ist es immer spannend, sich auszutauschen. Zudem verhindert es, dass man betriebsblind wird», meint er mit einem Augenzwinkern.
Er hat auch die «BauernZeitung» und die welsche Zeitung «Agri» abonniert, um zu wissen, was ausserhalb des Mikro-Kosmos Tessin vor sich geht.
In der Region Novazzano gibt es nicht mehr viele Landwirte wie die Gabaglios. Die Industrie hat sich enorm ausgebreitet, teilweise werden auf einen Schlag drei Hektaren Kulturland verbaut. «Die Industrie kann hier günstige Arbeiter aus Italien einstellen», erklärt Paolo Gabaglio. Heute sind nebst ihm und Sohn Fabio noch drei Vollerwerbs-Betriebe in Novazzano übrig geblieben, einige haben bloss noch Reben als Hobby.
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Alle bewirtschafteten Flächen liegen in der Schweiz
Die Gabaglios bewirtschaften keine Flächen in Italien, obwohl ihr Grundstück direkt an der Grenze liegt. Historisch haben nie Flächen ennet der Grenze zum Betrieb gehört. Gabaglio hat zwar einmal die Fühler ausgestreckt, aber rasch festgestellt, dass eine Expansion in diese Richtung schwierig ist. «Wir sind in einem hügligen, stark bewaldeten Gebiet. Landwirtschaftliche Nutzflächen sind auch auf der anderen Seite der Grenzen rar», erklärt Paolo Gabaglio.
Für ihn hat es im Alltag keine grosse Bedeutung, dass er derart nahe an der Grenze produziert. Ausser vielleicht, dass man den Einkaufstourismus direkt erlebt. «Als die Grenzen nach Corona geöffnet wurden, hatte es enorm viel Verkehr. Normalerweise ist es aber so: Unter der Woche kommen Autos mit italienischen Nummern in die Schweiz, um hier zu arbeiten. An Samstag und Sonntag hingegen fahren Autos mit Schweizer Nummern nach Italien, um billig einzukaufen.»
Der Direktvermarktungs-Milchautomat wurde wieder verkauft
Gabaglios hatten während drei Jahren einen Milchautomaten. Claudia Gabaglio: «Am Anfang lief das recht gut, wir verkauften bis zu 80 Liter pro Tag. Mit der Zeit ging der Verkauf immer mehr zurück, bis es sich schliesslich nicht mehr gelohnt hat.» Der Milchautomat wurde verkauft.
«Lustigerweise kommen seither wieder tendenziell mehr Leute mit eigenen Flaschen oder dem Kessel, um Milch direkt von uns zu kaufen», hat Sohn Fabio festgestellt.
Wo steht die «Azienda Gabaglio» in 20 Jahren, wollten wir von den Familien wissen. Das weiss niemand so richtig. Langfristige Pläne sind nur schon aufgrund des Status als Pächter eher schwierig. Ein Traum wäre es, den Betrieb dereinst kaufen zu können. Alle Gebäude und ein Grossteil der Flächen gehören der Erbengemeinschaft der einstigen Besitzer.
Fünf Hektaren Land konnte Paolo aber selber kaufen. Auf diesem Land stand ein altes Tessiner Landhaus. Das Haus wurde komplett abgebaut und steht heute im Ballenberg Freiluftmuseum im Berner Oberland. Familie Gabaglio hat auf diesem Land einen Hangar erstellt, wo die Landmaschinen untergebracht sind.
«Wir wollen vorwärtsmachen und weiterhin als Familie unserem Traum Landwirtschaft leben», sind sie sich einig. Und blicken dabei etwas besorgt in Richtung der sich ausbreitenden Industrie.
Ans Kürzertreten denkt Paolo Gabaglio (55) vorläufig noch nicht. «Wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Allein kann man den Betrieb so, wie er derzeit aufgestellt ist, nicht führen.»
Er freut sich, wenn seine Grosskinder Cédric und Amelie grösser werden und hoffentlich auch von Zeit zu Zeit auf dem Betrieb mitanpacken. «Es ist doch schön, wenn man gemeinsam als Familie etwas erreichen kann.» Darin sind sich alle einig.
Betriebsspiegel «Azienda Gabaglio»
Paolo und Fabio Gabaglio (Generationengemeinschaft)
LN: 55 ha
Kulturen: Silomais, Körnermais, Sorghum, Winterweizen, Futterrüben, Reben, Kunstwiesen
Tierbestand: 40 Milchkühe (Red Holstein, Holstein, Brown Swiss), 5 Ochsen, 10 Hühner
Weitere Betriebszweige: Lohnarbeiten (Häckseln, Dreschen, Rundballen pressen)
Arbeitskräfte: Betriebsleiter-Paare mit den Ehefrauen Claudia und Romina, 1 bis 2 Lehrlinge, saisonale Aushilfen