Ab April 2021 bietet der Coop Online-Shop Bündner Berg-Bio-Gitzi an, also Frischfleisch von jungen Ziegen. Das Pilotprojekt unter der Eigenmarke Pro Montagna soll den Schweizer Konsumenten die Gitzi schmackhaft machen.
Gitzifleisch schmeckt angenehm mild und ist kalorienarm. Es enthält nur wenig Fett und Cholesterin, dafür viel Eiweiss und mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Gitzifleisch ist sehr gesund – trotzdem kommt es in der Deutschschweiz praktisch nie auf den Tisch.
Unser Pro-Kopf-Konsum von Ziegenfleisch liegt bei mickrigen 80 Gramm – pro Jahr. Und das inklusive dem Fleisch der ausgewachsenen Ziegen, das vor allem zu Rohwürsten und Trockenfleisch verarbeitet wird. Im Gegensatz dazu werden Ziegenmilch-Produkte immer beliebter: Der Ziegenkäse liegt im Trend und die Ziegenmilch ist eine beliebte Alternative für Menschen mit einer Kuhmilch-Unverträglichkeit.
Zur Produktion von Ziegenmilch und Ziegenkäse braucht es Gitzi
Für Landwirte wenig überraschend braucht es zur Produktion von Ziegenkäse und Ziegenmilch zuerst gebärende Geissen. Diese müssen junge Zicklein zur Welt bringen – für die es in der Schweiz kaum einen Absatz gibt. Und wenn, dann deckt die Direktvermarktung gerade mal die Produktions- und Versandkosten der Landwirte.
Zahlen & Fakten zum Bündner Berg-Bio-Gitzi
Die meisten Gitzi werden im Dezember geboren. Der Geiss-Pur Abraham Lötscher in Pany GR trennt die Gitzi von der Geiss, nachdem sie drei Tage die Biestmilch (das Kolostrum) trinken konnten.
Danach werden die Gitzi mit der Flasche mit Bio-Geissmilch «geschöppelt», bis sich die Gitzi am Tränkautomat mit hofeigener Bio-Kuhmilch rund um die Uhr selbst bedienen können.
Die Verwertung der Bio-Gitzi
Mit 3 Monaten plus (ein paar Tagen) für die Direktvermarktung respektive mit 3 Monaten minus (ein paar Tagen) für das Coop Pro Montagna-Pilotprojekt werden die Bio-Gitzi geschlachtet.
Direktvermarktung
- 20 kg Lebendgewicht ergeben
- 8 kg Fleisch mit Knochen (gratis dazu die Leber und die Nierli)
Pilotprojekt von Coop
- 16 kg Lebendgewicht ergeben
- 6 kg Fleisch mit Knochen
Das Fleisch wird in Mischpaketen von je 4 kg (Direktvermarktung) respektive je 3 kg (Pilotprojekt) portioniert und vakuumiert. Die Gitzi aus dem Pilotprojekt werden ab April 2021 unter der Eigenmarke Pro Montagna im Coop Online-Shop angeboten.
Der Verkauf von Bio-Gitzifleisch
Wenn Ladina und Abraham Lötscher ihre Gitzi im eigenen Hofladen oder per Post direkt vermarkten, erzielen sie zwar einen höheren Verkaufspreis. Unter dem Strich bleibt aber mit der eigenen Arbeit und dem Postversand weniger übrig als im Pilotprojekt.
Direktvermarktung (Verkaufspreis)
36.00 Fr./kg mit Knochen
34.00 Fr./kg ohne Knochen
Pilotprojekt von Coop Pro Montagna (Ankaufspreis)
20.80 Fr./kg Schlachtgewicht
Proviande (Ankaufspreis)
10.00–14.50 Fr./kg Schlachtgewicht (G1 H = Gitzi der Gewichtsklasse 1, Vollfleischig)
Magere Rentabilität von Gitzi-Frischfleisch
Selbst bei Direktvermarktung geht der Verkauf von Gitzi-Frischfleisch nur in einer Mischrechnung mit der Ziegenmilch und Ziegenkäse-Produktion auf.
Wie wird das Fleisch der älteren Ziegen verwertet?
Das Fleisch der ausgewachsenen Ziegen wird vor allem zu Rohwürsten und Trockenfleisch verarbeitet.
«Mit der Absatzförderung von Gitzifleisch könnten sich die auf Nachhaltigkeit bedachten Coop, Migros & Co. profilieren», dachte sich der Präsident des Schweizerischen Ziegenzuchtverbandes SZZV. «Nur die Grossverteiler haben die nötigen Mittel, um mit gross angelegten PR-Massnahmen bei ihren Kunden den Gluscht auf Gitzifleisch zu wecken», erklärt Stefan Geissmann, der am Plantahof in Landquart GR als Berater für Kleinwiederkäuer arbeitet.
Mit seiner sprichwörtlichen Bündner Hartnäckigkeit öffnete Geissmann über die Coop-Patenschaft für Berggebiete die Türen zum Grossverteiler Coop, der nun im Frühling 2021 ein Pilotprojekt durchführt. Als zweiter Akteur unterstützt auch Bio Suisse dieses Pilotprojekt.
Pilotprojekt von Coop, Bio Suisse und zehn Bündner Landwirten
Im Winter 2021 ziehen zehn Ziegenzüchter aus dem Kanton Graubünden insgesamt 150 Gitzi auf. Diese müssen den Bio Suisse-Richtlinien entsprechen und – da das Pilotprojekt im Rahmen der Coop Patenschaft für Berggebiete läuft – eine Berg-Zertifizierung vorweisen und die Tierwohl-Checkliste von Coop erfüllen.
«Es war gar nicht so einfach, im Kanton Graubünden zehn Bio-Bauern zu finden, die Ziegen züchten, diese Anforderungen erfüllen und gleichzeitig genügend Gitzi produzieren können», betont Stefan Geissmann.
Die meisten Ziegenhalter hätten nämlich nur rund 10 Geissen, sind also eher «kleine» Ziegenhalter. Im ganzen Kanton Graubünden gibt es nur gerade ein Dutzend «Wirtschafts»-Ziegenhalter mit Herden von mindestens 100 Ziegen.
Zu diesen «Wirtschafts»-Ziegenhaltern gehört der Geiss-Pur Abraham Lötscher, der im Dorf Pany auf 1400 m ü. M. in der Bergzone III eine Herde Gämsfarbiger Gebirgsziegen hält.
Diese braun-schwarzen Ziegen wurden ursprünglich in den Kantonen Bern und Graubünden gezüchtet. Mit 18'000 Ziegen ist die Gämsfarbige Gebirgsziege heute die in der Schweiz am weitesten verbreitete Ziegenrasse mit zwei Schlägen: Die Bündner Geissen und die Oberhasli-Brienzer Geissen, beide gehörnt und ungehörnt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auch bei extensiver Haltung eine hohe Milchleistung erbringen.
Der Geiss-Pur Abraham Lötscher aus dem Bündner Bergdorf Pany
Abraham und Ladina Lötscher bewirtschaften mit den Eltern den Hof der Familie Lötscher, auf ihrer Website bezeichnet sich die Familie sinnigerweise als Geiss-Pur. Die beiden arbeiten eng zusammen – aber die Vorlieben sind klar verteilt.
«Abraham ist der Geiss-Pur» erklärt Ladina Lötscher lachend, «mir sind die Geissen zu lebendig und zu wild.» Sie arbeitet lieber mit den Milchkühen: 16 behornte Original Braunvieh (OB) und Rückpaarung Original Braunvieh (ROB), Kreuzungen Blüem und Gürt sowie Tiroler Grauvieh stehen ruhig im separaten Anbindestall.
2016 bauten die Lötschers einen grossen, hellen Laufstall, der die Anforderungen für Besonders Tierfreundliche Haltung BTS und Regelmässigen Auslauf im Freien RAUS erfüllt, und starteten mit 40 Ziegen.
Heute umfasst ihre Herde 110 Milchgeissen und saisonal bis 150 Gitzi. Die Geissen bekommen im Winter das betriebseigene Bio-Heu und Bio-Emd. Beim Melkstand gibt es eine Bio-Getreidemischung als Lockfutter. Der ganze Betrieb ist silofrei.
Von April bis Oktober können die die Gämsfarbigen Gebirgsziegen mit ihrem stark ausgeprägten Bewegungsdrang täglich auf die Weiden, die rund um den Laufstall liegen. Zum Schutz der Herde verbringen die Geissen die Nacht jeweils im Stall. Dort bekommen sie abends nach dem Melken nochmals Dürrfutter.
Betriebsspiegel vom Geiss-Pur Betrieb der Familie Lötscher
- Ladina und Abraham Lötscher mit Ilona, Fabian, Alwin und Svenja, Pany GR
- LN: 46 ha, Bergzone III
- Tierbestand: 110 Milchziegen (Gäms-farbige Gebirgsziegen), bis 150 Gitzi, 16 Milchkühe (behornte OB & ROB, Kreuzungen Blüem und Gürt sowie Tiroler Grauvieh), 1–2 Kälber und 5 Stück Jungvieh
- Weitere Betriebszweige: Direktvermarktung, Gartenunterhalt
- Arbeitskräfte: Ladina und Abraham Lötscher mit den Eltern Hanspeter und Agnes Lötscher. Hofmitarbeiter Arno Aliesch (75 % Nov. bis April) und Teilzeitaushilfe Andrea Flütsch.
Ziegenmilch-Produkte finden ganzjährig einen guten Absatz
Bei dieser Bio-Haltung im stotzigen Berggebiet liegt die durchschnittliche Milchleistung bei 626 kg/Jahr (3,4 % Fett, 3,0 % Eiweiss) bei 266 Melktagen. Das entspricht einer Milchmenge von 2,4 kg/Tag. Je nach Ziegenrasse und Region sind sogar bis 1000 kg/Jahr oder 3,8 kg/Tag möglich.
Die Milch fährt Abraham Lötscher alle zwei Tage zehn Kilometer und 700 Höhenmeter hinunter ins Tal, in die Bio-Käserei Prättigau in Jenaz. Diese produziert daraus «Prättigauer Geisskäse» (Weichkäse) und den «Halbhartkäse Geiss».
Bevor die Lötschers den Schritt in die Ziegen-Haltung wagten, hatten sie sich verschiedene Milchziegen-Betriebe angeschaut. Sie wussten also: Ziegenmilch und Ziegenkäse finden ganzjährig guten Absatz, Gitzifleisch dagegen nur rund um Ostern.
Abraham und Ladina Lötscher sagten sich: «Wir halten nur so viele Milchziegen, wie wir Gitzi vermarkten können.» Von den 130 Gitzi des Jahres 2020 nutzten sie:
- 60 Gitzi für die Fleischproduktion
- 40 Gitzi für einen externen Mäster
- 30 Gitzi zur Nachzucht
Zusätzlich zur Direktvermarktung neu das Pilotprojekt von Coop Pro Montagna
Auf dem Hof von Ladina und Abraham Lötscher kommen die Böcke der Gämsfarbigen Gebirgsziege, ein Burenziegen-Bock und ein Anglo Nubier-Bock ab August zum Einsatz.
Die Gitzi kommen dann ab Ende Dezember bis in den März des Folgejahres zur Welt. Gemäss der Tierstatistik von Identitas verläuft so der typische Jahresverlauf einer Ziegenherde:
- Dezember 5 % Gitzi
- Januar 16 % Gitzi
- Februar 30 % Gitzi
- März 25 % Gitzi
- April 9 % Gitzi
- Mai 3 % Gitzi
- Juni-August je 1–2 % Gitzi
- September 2 % Gitzi
- Oktober 3 % Gitzi
- November 2 % Gitzi
Zunächst erhalten die Gitzi die Biestmilch (das Kolostrum) von der Muttergeiss. Danach werden sie mit der Flasche mit Bio-Geissmilch «geschöppelt», bis sich die Gitzi am Tränkautomat mit hofeigener Bio-Kuhmilch rund um die Uhr selbst bedienen können.
Die Gitzi saufen 2,5 Liter Milch pro Tag, was in drei Monaten 225 Liter Milch ergibt – für ein Tier mit nur 9 bis 11 kg Schlachtgewicht eine ordentliche Investition. Zum Fressen erhalten die kleinen Geissen auf dem Hof der Familie Lötscher zudem das Bio-Heu vom eigenen Betrieb.
Die schlachtreifen Gitzi, welche Lötschers 2021 für das Pilotprojekt aufziehen, werden in die Engadiner-Spezialitäten Metzgerei Zanetti in Sent gefahren und dort zusammen mit den Gitzi der anderen neun Bündner Züchter für das Coop Pro Montagna-Pilotprojekt geschlachtet.
Von März bis Juni 2021 werden rund 300 Mischpakete mit Bündner Berg-Bio-Gitzifleisch unter der Eigenmarke Pro Montagna im Coop Online-Shop angeboten. Das Pilotprojekt soll den Schweizern die Gitzi schmackhaft machen.