Kurz & bündig

- Schwanzbeissen ist noch immer ein Problem in der Schweinehaltung.
- In der Schweiz versucht die Suisag, aggressives Verhalten von Schweinen mittels Kamerabeobachtung und KI früh zu erkennen. Diese Daten könnten auch züchterisch von Nutzen sein.
- In Deutschland nutzt das Start-up-Unternehmen «Vetvise» KI, um die Haltungsumwelt von Schweinen zu optimieren und so Ausbrüchen von Schwanzbeissen zuvorzukommen.

Damit Schweine zufrieden sind, müssen viele Faktoren in ihrer Lebensumwelt zusammenpassen. Fütterung, Wasserversorgung, Stallklima, Platzangebot und vorhandenes Beschäftigungsmaterial – alles Parameter, die beim Auftreten von Schwanzbeissen eine Rolle spielen können. Zudem wird Kannibalismus, dem die Verhaltensstörung Schwanzbeissen untergeordnet ist, oft durch mehrere Faktoren gleichzeitig ausgelöst oder beeinflusst.

Die genaue Ursache ist meist nicht leicht zu erkennen. Die Folgen jedoch schon. Während das Tierwohl der betroffenen Tiere durch die Verletzungen reduziert sei, ergebe sich für Landwirte ein höherer Arbeitsaufwand und teils erhebliche wirtschaftliche Schäden, schreibt die Suisag in einem Merkblatt.

Eine 2022 publizierte Studie der Universitäten Bern und Zürich sowie der Agroscope beschäftigte sich mit der Prävalenz von Schwanzläsionen bei Schweizer Mastschweinen. Im Zuge dessen wurde die Schwanzlänge und der Zustand der Schwanzspitze von rund 195'000 Schweinen bei der Anlieferung in mehreren Schlachthöfen beurteilt.

Während 63 Prozent der Tiere mit intaktem Schwanz geschlachtet wurden, wiesen 36 Prozent der Tiere einen teilweisen oder vollständigen Verlust des Schwanzes auf. «Der Zustand der Schwanzspitze wurde in 63 Prozent als intakt, in 23 Prozent als abgeheilte Läsion, bei 1 Prozent als akute Läsion und in 12 Prozent aller Fälle als chronische Läsion beurteilt», schreiben die Wissenschaftler, wobei männliche Tiere signifikant höhere Werte zeigten als weibliche Tiere (Gerster et al., 2022).

In der Studie wird geschlussfolgert, dass solches Datenmaterial in Kombination mit der fortschreitenden Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) und automatisierter Datensammlung auf Betrieben nützlich sein kann, um Schwanzbeissverhalten früh zu erkennen und rechtzeitig intervenieren zu können.

«Auch wenn in der Schweiz noch zu wenig Tiere mit vollständig intaktem Schwanz am Schlachthof ankommen, ist es positiv zu bewerten, dass ein Grossteil der Tiere nur leichte Läsionen aufweist. Dies zeigt, dass die Schweizer Landwirte gelernt haben, das Problem zügig zu erkennen und zu reagieren», sagt die Tierärztin Nadine von Büren, Leiterin Geschäftsbereich Zucht und Mitglied der Suisag-Geschäftsleitung.

Während in der Schweiz schon seit fast 20 Jahren ein Kupierverzicht gilt und flächendeckend umgesetzt ist, sei dies in Europa noch nicht der Fall. Obwohl das routinemässige Kupieren gesetzlich seit 1991 laut EU-Recht verboten ist, ist das Kupieren der Schwänze in vielen europäischen Ländern nach wie vor verbreitet.

«In den Jahren 2017 bis 2019 wurden 26 EU-Mitgliedstaaten, in denen noch routinemässig kupiert wurde, auditiert. Diese Länder erhielten die Auflage, einen Aktionsplan hin zu einem Kupierverzicht vorzulegen», erklärt Nadine von Büren.

In Deutschland gebe es zum Beispiel Förderprojekte wie die sogenannte «Ringelschwanzprämie», die SchweinehalterInnen einen Anreiz zum Kupierverzicht liefern sollen. Trotz des Kupierens der Schwänze trete aber auch in deutschen Schweinehaltungen Schwanzbeissen auf.

Mehr Platz und viel Beschäftigung reduziert Schwanzbeissen

«Generell zeigen die Erfahrungen sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland, dass Schweine in einer Haltung mit einem grösseren Platzangebot und viel Beschäftigung leichter mit unkupierten Schwänzen zurechtkommen», erklärt Tierärztin Nadine von Büren. [IMG 4]

Es seien aber viele Faktoren, die stimmen müssen, damit Tiere mit intakten Schwänzen den Schlachthof erreichen. Eine 2021 durchgeführte Studie von Forschern der Agroscope befasste sich mit Risikofaktoren für das Auftreten von Schwanzläsionen bei Schweinen in 38 Schweizer Mastschweinebetrieben.

Das Ergebnis zeigte als grössten Risikofaktor den Gesundheitszustand der Tiere. Je schlechter dieser war, desto höher war das Risiko, dass vermehrt Schwanzläsionen auftraten. Das Platzangebot pro Tier, die Gruppengrösse und die Art der Fütterung konnten die WissenschaftlerInnen als weitere Risikofaktoren identifizieren.

Die Suisag testet ein Kamerasystem zur Verhaltensbeobachtung

Doch wie kommen digitale Massnahmen, die Schwanzbeissen verhindern sollen, ins Spiel? Zum einen können Fehler in den Fütterungs- oder Lüftungssystemen mit automatischen Warnmeldern zeitnah empfangen werden, zum anderen kann man akuten Kannibalismusvorfällen indirekt vorbeugen. Digitale Hilfsmittel, die direkt bei der Vorbeugung von Kannibalismus helfen könnten, würden in der Schweiz aktuell noch nicht eingesetzt, sagt Nadine von Büren.

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«Die automatische Erkennung von aggressivemVerhalten ist ein Novum.»

Nadine von Büren, Suisag

Die Suisag arbeite momentan jedoch an einem Pilotprojekt im Bereich Zucht zur «Tierwohlverbesserung durch Computervision im Schweinestall». Dieses gehe aus der Zusammenarbeit zwischen Suisag und der Firma Serket, einem Dienstleister für künstliche Intelligenz zur Verhaltensbeobachtung bei Schweinen, hervor.

«Zusammen haben wir in der Eberaufzucht in Sempach ein Kamerasystem installiert, welches 24/7 das Verhalten der Tiere beschreibt und speichert. Das System wurde für vier Gruppen aufgebaut – in allen vier Buchten wurden je eine Kamera und ein UHF-Leser installiert, mit dessen Informationen die Tiere einzeln identifiziert werden können», beschreibt von Büren.

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Die Bild- und Sensordaten werden durch die Software von Serket miteinander abgeglichen und Verhaltensbeschreibungen für jedes Tier gespeichert. Das Projekt verlaufe nach Zeitplan. Das bedeutet, dass die Installation der Hardware abgeschlossen ist und momentan die Software an die Begebenheiten der Stallungen angepasst wird. Dazu mussten neue Bilddaten für die genutzte künstliche Intelligenz zur Verfügung gestellt werden. «Sobald dieser Schritt abgeschlossen ist, startet die Datensammlung», erklärt die Tierärztin.

Das Ziel der Pilotstudie sei es, das Verhalten der Tiere gegenüber Artgenossen und Menschen zu beschreiben und automatisiert zu erkennen. Beispielsweise solle aggressives Verhalten wie Schwanz- oder Ohrenbeissen und die Reaktion der Tiere auf Stallmitarbeitende erkannt werden. Die Erkennung von Schweinen, die aggressives Verhalten zeigen, sei ein Novum in der Schweiz.

Bisher war lediglich die Identifizierung der Opfer durch deren Wunden möglich, nicht aber die eindeutige Erkennung der Täter. Weitere interessante Parameter könnten Ruhezeit, Trinkdauer oder Trinkintervall sein. «Dies sind alles Phänotypen, welche aktuell noch nicht erhoben und damit züchterisch noch nicht bearbeitet werden können», erklärt Nadine von Büren.

Verhaltensmerkmale spielen in der Zucht künftig eine grössere Rolle

Langfristig sollen diese neuen Verhaltensindikatoren in die züchterische Praxis eingebunden werden. Umgesetzt wird dies mittels Zuchtwertschätzung. Um solch eine Umsetzung zu prüfen, müssen Daten über mindestens ein halbes Jahr gesammelt werden.

Damit können die züchterischen Möglichkeiten analysiert und allenfalls etabliert werden. «Wir sind gespannt, welche Resultate sich aus diesem Pilotprojekt ergeben. Ich bin überzeugt, dass Verhaltensmerkmale in Zukunft eine noch grössere Rolle im Schweizer Zuchtprogramm spielen werden», erklärt Nadine von Büren.

In Deutschland stehen bereits Kameras im Einsatz

In Deutschland ist das Unternehmen «Vetvise» seit 2021 in der digitalen Überwachung und Verhaltenserkennung durch KI in Geflügel- und Schweineställen aktiv. Das Angebot des Start-up-Unternehmens umfasst ein System, welches das Verhalten und die Körperposition unspezifischer Einzeltiere mittels Weitwinkelkameras erkennt und basierend darauf den LandwirtInnen Handlungsempfehlungen geben kann.

Des Weiteren zählt das System die Tiere automatisch am Trog sowie an der Tränke und überwacht Stallklima und Stalltechnik. Funktioniert die Fütterung oder die Tränke nicht mehr, wird dies vom Computersystem wahrgenommen und die LandwirtInnen werden darüber in Kenntnis gesetzt.

«Ein Schwein, das in seinem Leben nie krank war, dem nie zu kalt oder zu warm war, hat eine bessere Futterverwertung und weniger Stress», erklärt Tierarzt und Vetvise-Mitgründer Johannes Schmidt-Mosig. Dadurch könnten sowohl das Tierwohl als auch die Wirtschaftlichkeit gesteigert werden.

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«Die Massnahmenfür Schweineställesind sehr individuell.»

Johannes Schmidt-Mosig, Vetvise

Man könne sich das Stresslevel der Schweine wie ein Fass vorstellen, erklärt der Tierarzt. Suboptimale Temperaturbedingungen oder Zugluft füllen dieses Fass. Eine Hilflosigkeit entsteht, weil die Tiere die Situation weder verändern noch ihr entfliehen können – so läuft das Fass über und die Tiere reagieren zum Beispiel mit Schwanzbeissen.

Das primäre Ziel von Vetvise sei es nicht, Schwanzbeissen durch Tierbeobachtung erkennen zu können. Stattdessen sollen durch die Verhaltensbeobachtung Indikatoren identifiziert werden, die zeigen, dass die Tiere nicht innerhalb ihrer Komfortzone sind. Daraus resultieren Handlungsempfehlungen für LandwirtInnen, die das Stresslevel senken und so einem eventuellen Ausbruch von Schwanzbeissen zuvorkommen.

Teilautonome Steuerung für den Aussenstall

Momentan testet das Unternehmen auch eine teilautonome Klimasteuerung im Aussenstall. Erkennt die KI, dass die Schweine nicht mehr auf der Fläche, sondern vermehrt unter ihrer Überdachung liegen, dann liegt die Vermutung nahe, dass die Umgebungstemperatur für die Tiere zu gering ist. Das System ist gekoppelt an windabhaltende Rollos, die in diesem Fall automatisch heruntergefahren werden. Die Rollos werden so lange stufenweise geschlossen, bis die KI erkennt, dass sich die Tiere wieder mehr auf der Fläche verteilen.

Das gleiche Prinzip funktioniert umgekehrt bei höheren Aussentemperaturen im Sommer. «Sofern sich diese teilautonome Klimasteuerung als praxistauglich herausstellt, wovon wir ausgehen, dann wird sie zur Marktreife hin ausgerollt», berichtet Schmidt-Mosig.

Das Angebot von Vetvise dient als digitaler Sensor in der Tierhaltung, der vor allem in enger Zusammenarbeit mit den LandwirtInnen und den TierärztInnen gut funktionieren kann.

«Die Tierbeobachtung ist immer ähnlich, weil es sich um dieselbe Spezies handelt. Aber die Massnahmen, die sich daraus ableiten, müssen zum jeweiligen Stall passen. Die Schweineställe sind sehr individuell. Was in einem Stall funktioniert, läuft in einem anderen nicht gut», so Johannes Schmidt-Mosig.