Kurz & bündig
- In den letzten 40 Jahren hat die Waldfläche in den Alpen um 21 Prozent zugenommen.
- Diese Vergandung «schluckt» unter anderem Sömmerungsweiden.
- Mit ein Grund ist, dass wegen des Strukturwandels in der Landwirtschaft weniger Personen an der Pflege der Alpen arbeiten.
- Maschinelle Power könnte den Personalmangel ausgleichen, schlägt Sandro Michael vom Bündner Bauernverband vor.
- Selina Droz vom SAV erwähnt die Wichtigkeit der Direktzahlungen für das Alp- und Berggebiet.
Die Hälfte des heutigen Sömmerungsgebiets in der Schweiz war ursprünglich bewaldet. Über Jahrhunderte rodeten Landwirte und Älpler den Wald und schufen so nach und nach ein neues Landschaftsbild und eine neue Grundlage für ihren Lebensunterhalt in den Berggebieten.
Heute ist das Sömmerungsgebiet rund 510'000 ha gross. Das sind rund 35 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und macht rund 10 Prozent der gesamten Landesfläche aus. Doch diese Fläche schrumpft beständig, denn der Wald schiebt sich langsam, aber stetig vor.
Die ganze Fläche offenhalten?
Konkrete Zahlen dazu liefert das vierte Landesforstinventar (LFI4): Seit 1983/85 hat der Wald gesamtschweizerisch um über 120'000 Hektaren oder um 10 Prozent zugenommen hat. Rund 90 Prozent der wiederbewaldeten Gebiete liegen in den Alpen. Hier hat die Waldfläche um 21 Prozent zugenommen. [IMG 2]
Das LFI ist eine periodische Erhebung zum Zustand und der Entwicklung des Schweizer Walds, welche vom Bundesamt für Umwelt BAFU und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL gemacht wird.
Das Vorwachsen des Waldes bringt für die Alpwirtschaft Herausforderungen mit sich. Es stellt sich die Frage, wie und bis zu welchem Grad die sogenannte Vergandung bekämpft werden soll. Der mit dem zunehmenden Wolfsdruck verbundene hohe Aufwand beim Zäunen und die rückläufige Anzahl gealpter Kleinviehtiere wird verstärkt dazu führen, dass man gezwungen wird, sich nur noch auf einige Weiden zu konzentrieren, statt die ganze Fläche offenzuhalten, sagt Sandro Michael dazu.
Intensivierung auf einigen Weiden, Aufgabe anderer Weiden
Doch so weit sei man heute noch nicht, erklärt der Geschäftsführer des Bündner Bauernverbandes: «Wenn wir die Alpen nicht mehr pflegen, verlieren wir sie. Wir wollen sie aber erhalten, um tierische Produkte an einem Standort zu produzieren, an dem es sonst keine Möglichkeit für die Herstellung von Lebensmitteln gibt.»
Die Alpwirtschaft bekommt die Auswirkungen der Vergandung zu spüren – und ist gleichzeitig auch mitverantwortlich dafür. Denn die Bewirtschaftung der Alpen hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert.
Denn der Trend geht in diese Richtung: «Gut zu bewirtschaftende Flächen werden weiter bewirtschaftet und eher intensiviert werden – was im Übrigen nicht unbedingt gut ist für die Biodiversität. Topographisch ungünstige Flächen werden hingegen eher aufgegeben und werden über kurz oder lang verbuschen», sagt Selina Droz, Geschäftsführerin des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verbands SAV.
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Wolf beschleunigt den Prozess
Die Vergandung ist eine Begleiterscheinung des Strukturwandels: «Wenn die Heimbetriebe immer grösser werden, fehlt den Leuten auf den Alpen die Zeit für (hand-)arbeitsintensive Arbeiten wie Weidepflege», erklärt Droz. Die Präsenz der Grossraubtiere, insbesondere des Wolfs, beschleunige ausserdem diesen Prozess, ergänzt sie (siehe auch «So steht es politisch um den Wolf»).
Ihm seien Schafhalter bekannt, die wegen des Wolfs nicht mehr z’Alp gehen, erzählt Sandro Michael. «Dabei sind es oft gerade diese Kleinwiederkäuer, die unwegsame Gebiete beweiden und so offenhalten.»
Sömmerungsbeiträge stoppten Rückgang gealpter Tiere
Auf politischer Ebene ist eine Bekämpfung der Vergandung durch die Pflege des Alpenkulturlands durchaus gewollt. So wurden ab 2014 die Sömmerungsbeiträge erhöht. Gleichzeitig wurde ein Alpungsbeitrag eingeführt, um einen Anreiz für Heimbetriebe zu schaffen, ihre Tiere in die Sömmerung zu geben.
Der vorher beobachtete Rückgang der gealpten Tiere konnte durch diese Massnahmen weitgehend gestoppt werden, sagt Selina Droz: «Wichtig ist, dass es keine Kürzungen der Direktzahlungen für die Alpwirtschaft und die ganze Berglandwirtschaft gibt. Handarbeitsintensive, aber ökologisch wertvolle Flächen müssten ausserdem tendenziell mehr Geld erhalten.»
Auch im Bündnerland ist der Strukturwandel zu spüren. Wo früher 20 Personen gemeinsam die Weiden pflegten, gingen heute noch 10 Personen gemeinsam Tännchen schneiden, sagt Sandro Michael.
«Wir sind aktuell dabei, auf der Verordnungsstufe mehr Freiheiten für den Einsatz von Mulchgeräten zu erwirken. Wir erhoffen uns, so die abnehmende menschliche Power durch die maschinelle Power zu ersetzen», so Michael.
Gefährdet ist auf den Alpen auch die Biodiversität
Auf der Website zum Verbundprojekt Patura Alpina finden sich Informationen zur Bekämpfung von Problempflanzen wie Grünerle, Alpenrosen oder Weissem Germer auf der Alp.
Durch die Rodung der Bergwälder wurden vor rund 200 Jahren, neue ökologische Nischen geschaffen. Auf den meist extensiv bewirtschafteten Alpweiden ist auch heute eine grosse Vielfalt von Flora und Fauna anzutreffen.
Alpweiden weisen mit durchschnittlich 40 Pflanzenarten auf 10 Quadratmetern die höchste mittlere Artenzahl auf, verglichen mit anderen untersuchten Lebensräumen, heisst es etwa im Biodiversitätsbericht 2023 des BAFU: «Insgesamt ist das Grünland der subalpinen und alpinen Lagen um rund ein Viertel artenreicher an Pflanzen als das meist intensiv genutzte Grünland in den Talgebieten.»
Die Bekämpfung der Vergandung ist daher nicht nur wegen des Erhalts von Produktionsfläche wichtig, sondern auch wegen der Biodiversität auf diesem Kulturland. Oder wie es Sandro Michael ausdrückt: «Gegen diese Einöde von Alpenrosen und Grünerlen müssen wir vorgehen.»
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