Im Oktober 2021 hat wohl die eine oder andere Frau leer geschluckt: In der Schweizer Landwirtschaft seien 70 Prozent der Frauen sozial nicht abgesichert, war zu lesen. Der Schweizerische Bäuerinnen- und Landfrauenverband SBLV, der Schweizer Bauernverband SBV, die Vereinigung Prométerre und die Versicherin Agrisano stellten die Kampagne «Verantwortung wahrnehmen. Fürs Leben rüsten.» vor und betonten, wie wichtig es sei, dass sich Frauen informieren, mit ihren Partnern die (unangenehmen) Gespräche über Altersvorsorge führen und darauf pochen, dass ihre Arbeiten auf dem Hof auch einen monetären Wert haben.
Ein Jahr später verschickt das BLW eine Medienmitteilung mit dem Titel «Frauen in der Landwirtschaft: Sozial besser abgesichert und einflussreicher». 72 Prozent der Frauen sind mit ihrem Leben zufrieden, 76 Prozent sehen sich als Hausfrau und Mutter. Die Studie «Frauen in der Landwirtschaft» zeigt Resultate, die fantastisch klingen: «Nur noch 4 Prozent der Frauen geben an, keine eigene Absicherung und Vorsorge zu haben.» Ist also ein unglaublicher Ruck durchs Land gegangen?
Die Zahlen der Studie in den Kontext stellen und präzisieren
Die Realität liegt irgendwo in der Mitte, wie sich nach einigem Nachfragen ergibt:
Anne Challandes, Präsidentin des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbandes, bezieht sich bei den 70 Prozent auf die Zusatzerhebung zur Landwirtschaftlichen Betriebszählung 2013 (Bundesamt für Statistik). Diese Zusatzerhebung haben die HAFL-Wissenschaftlerinnen Sandra Contzen und Maria Klossner in einem 2015 erschienen Bericht analysiert.
Challandes rechnet auf Basis dieser Analyse folgendermassen:
- 15 % der Partnerinnen sind selbstständig entlöhnt
- 15 % der Partnerinnen sind angestellt
Die selbstständigen und angestellten Partnerinnen haben bei der AHV ein eigenes Konto.
- 56 % der Partnerinnen arbeiten ohne Lohn auf dem Betrieb mit
- Von 13 % der Partnerinnen ist der Mitarbeits-Status unbekannt.
Gemäss Challandes werden also «70 % der in landwirtschaftlichen Betrieben tätigen Frauen für ihre Tätigkeit im Betrieb nicht entlohnt und haben daher keine (Absicherung) in eigenem Namen oder keine ausreichende soziale Absicherung». Dieser Prozentsatz ändere sich, wenn sie eine Beschäftigung ausserhalb des Betriebes haben.
Selbst wenn eine Frau ein AHV-Konto hat, ist sie noch nicht auf der sicheren Seite
Ein eigenes AHV-Konto haben auf jeden Fall alle Frauen, die auswärts arbeiten. Und dass Frauen auswärts arbeiten, geben in der BLW-Studie von 2022 53 Prozent an, in der Zusatzerhebung 44 Prozent.
Licht in den Zahlendschungel bringt Agrarsoziologin Sandra Contzen. Sie stellt klar, dass tatsächlich ein gewisser Teil der Frauen sehr schlecht bis gar nicht sozial abgesichert ist. Nämlich diejenigen, die ohne Lohn auf dem Hof mitarbeiten und über den Ehepartner bei der AHV versichert sind.
Wie sich dieser Anteil entwickelt, ist schwer vergleichbar, da die Daten nicht eins zu eins vergleichbar sind. Doch der Anteil scheint gemäss der jüngsten Zusatzerhebung des Bundesamts für Statistik, erschienen im Dezember 2021, sogar gestiegen zu sein:
- 2013 hatten 71 % der Ehefrauen eine eigene AHV, 29 % von ihnen hatten die AHV über den Ehemann
- 2021 hatten 66 % der Ehefrauen, welche ausschliesslich auf dem Betrieb arbeiten, eine eigene AHV, 34 % von ihnen hatten die AHV über den Ehemann
In den Fokus müssten also diese 34 Prozent rücken (rund 6200 Frauen), die ausschliesslich auf dem Betrieb und dort ohne Lohn arbeiten, sagt Sandra Contzen.
Abschliessende Aussagen zur sozialen Absicherung sind kaum möglich
Doch auch bei all den anderen Frauen, die auf die eine oder andere Art in der Landwirtschaft tätig sind, ist höchstwahrscheinlich nicht alles so rosig, wie es die neue BLW-Studie auf den ersten Blick vermuten lässt. Höchstwahrscheinlich, weil es so gut wie unmöglich ist, abschliessende Aussagen zu machen.
Sandra Contzen schreibt in ihrer Analyse im Jahr 2015, dass die Angaben in der Zusatzerhebung zur sozialrechtlichen Absicherung mittelmässig bis gut waren. Die Resultate seien also mit einer gewissen Vorsicht zu geniessen.
Diese Hinweise fehlen zu guten Teilen in der neuen BLW-Studie. Sehr ehrlich ist die BLW-Studie, wenn es um die Gruppendiskussionen geht: Dort sei die Rekrutierung der Teilnehmerinnen sehr schwierig gewesen, der Aufruf erfolgte schliesslich über den SBLV.
Am Ende der Lektüre der BLW-Studie bleibt ein ungutes Gefühl. Verglichen werden zwar die Resultate der vorangegangene BLW-Studien (2002 und 2012), doch die Resultate der Zusatzerhebung kommen nicht vor. Gemäss BLW, weil sich die Grund-gesamtheit der beiden Studien nicht vergleichen lassen.
Dennoch: In den Kontext gesetzt und hinterfragt wird kaum, einiges ist auch nach mehrfachem Lesen kaum verständlich. Beispiel gefällig? «Fast die Hälfte der jungen Frauen bis 35 Jahre gibt an, dass sie mit dem Einkommen aus ihrem Betriebszweig mehr als 50 Prozent zum Gesamteinkommen beitragen (total 23 %)».
23 Prozent der Frauen erwirtschaften also mehr als die Hälfte des Gesamteinkommens? Direktvermarktung (meist die Domäne der Frauen) ist also einträglicher als die anderen Betriebszweige? Wie sind denn solche Betriebe aufgestellt? Diese Fragen bleiben offen.
Die Tendenz zwar erfreulich, es bleiben Vorbehalte
Um auf die soziale Absicherung zurück zu kommen: Tatsächlich geben in der aktuellen BLW-Studie nur noch 4 Prozent der befragten Frauen an, dass sie keine eigene soziale Absicherung haben, 2012 waren es noch 12 Prozent. Anne Challandes relativiert auf Anfrage ihre Aussage, es müssten «alle Details und Elemente berücksichtigt werden».
Wer also einen Tag pro Woche auswärts arbeitet, aber den Rest der Woche ohne Lohn auf dem Hof schuftet, hat AHV. Selbst ohne Lohn ist eine soziale Absicherung (z.B. 2. oder 3. Säule oder eine Taggeldversicherung) möglich. Dies kann aus steuerlichen Gründen interessant sein. So ergibt sich dann der sehr hohe Prozentsatz der Frauen, die in der BLW-Studie angeben, sozial abgesichert zu sein.
Doch, um ein letztes Mal aus der Analyse von Sandra Contzen zu zitieren: «Bei all diesen Aussagen darf nicht vergessen werden, dass die Anzahl Personen, welche über eine 1., 2. oder3. Säule verfügt, nichts darüber aussagt, wie hoch diese Versicherung bzw. das Ersparte ist.» Sprich: Wie viel dann im Alter wirklich bleibt, muss unbedingt regelmässig geprüft werden.
StandPunkt Dominique Eva Rast, Chefin vom Dienst «die grüne»: Dranbleiben!
«Nid lugg la gwinnt», pflegte meine Grossmutter zu sagen. Als Jurassierin waren sie und ein Teil meiner Verwandtschaft unglaublich stolz auf den eigenen, neuen Kanton.
«Nid lugg la gwinnt» möchte ich den Verbänden ans Herz legen. Denn es ist beschämend, dass nach wie vor Frauen ohne Lohn auf den Höfen schuften.
Aber dient es den Anliegen der Frauen, wenn die Zahlen nicht präzise sind oder aus dem Kontext gerissen werden? Wohl eher nicht.
Selbstkritisch gilt es anzumerken, dass wir JournalistInnen diese guten Nachrichten kaum hinterfragt haben. Denn wie kann es sein, dass innert einem Jahr plötzlich Friede, Freude, Eierkuchen herrscht?
Verbandskritisch muss die Frage erlaubt sein: Wo bleiben die kämpferischen Stimmen? Es mag sein, dass es Verbesserungen gegeben hat. Es mag sein, dass sich die Landfrauen, Bäuerinnen, Landwirtinnen ein bisschen mehr Gedanken machen, wie ihre Situation im Alter aussieht. Doch drei Viertel sagen, sie seien mit ihrer Situation zufrieden.
Es braucht wenig Fantasie, sich ein Gespräch einer unzufriedenen Frau mit ihrem Partner auszumalen, die Lohn für ihre Arbeit möchte: «Die anderen sind doch zufrieden. Wieso denn du nicht?»
BLW-Studie «Frauen in der Landwirtschaft»
Seit 2002 Jahren untersucht das Bundesamt für Landwirtschaft BLW in der Studie «Frauen in der Landwirtschaft 2022» Situation und Rolle der Frauen in der Landwirtschaft.
Die Studie umfasst einen quantitativen und einen qualitativen Teil. Für den quantitativen Teil wurden nach dem Zufalls-prinzip 1500 Adressen aus dem Agrarinformationssystem AGIS des BLW gezogen. Im Fokus waren direktzahlungs berechtigte Betriebe mit (weiblichen) Bewirtschafterinnen und/oder weiblichen mitarbeitenden Familienmitgliedern.
Die Online-Umfrage wurde von gfs-zürich durchgeführt. Mitgemacht haben 778 Frauen.
Für den qualitativen Teil wurden vier Gruppendiskussionen mit insgesamt 29 Frauen geführt. Die Auswertung der Studie erfolgte durch Agridea.
Zusatzerhebung des Bundesamtes für Statistik
Jedes Jahr erfasst das Bundesamt für Statistik Daten zur Struktur aller Schweizer Landwirtschaftsbetriebe.
Alle drei Jahre findet eine Zusatzerhebung zu verschiedenen Themen statt, dazu gehören auch Angaben zu BetriebsleiterIn, BetriebsinhaberIn und Betrieb sowie zu den beschäftigten Personen im landwirtschaftlichen Betrieb.
Die Datengrundlage umfasst 15'000 von insgesamt rund 50'000 landwirtschaftlichen Betrieben.
Die Daten 2013 wurden von den HAFL-Wissenschaftlerinnen Sandra Contzen und Maria Klossner analysiert. Ihre Analyse wurde im Juni 2015 veröffentlicht.
Ende 2021 hat das Bundesamt für Statistik die Resultate der Zusatzerhebung 2020 veröffentlicht.